Wer für den Schutz einer Art andere Arten opfern will, braucht dringend Nachhilfe in Ökologie. Ein Beispiel aus der Stadt Tübingen, das symptomatisch für die verfehlte Naturschutzpolitik in Deutschland ist.
Am 23.4.2024 war der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (51, parteilos, vormals Grüne) in der ZDF-Sendung „Markus Lanz“ zu Gast. Zum Thema „Bürokratie“ erzählte Palmer sinngemäß folgende Begebenheit:
„Wir sind Standort eines Universitätsklinikums. (…) Auf die Versorgung sind drei Millionen Menschen angewiesen. Da geht’s um Menschenleben! (…) Der Komplex braucht dringend eine Erweiterung. Da geht es um eine Viertelmilliarde. Ich würde gern die Baugenehmigung unterschreiben. Aber dann komme ich ins Gefängnis. Weil ein Ornithologe als Patient einen seltenen Vogel zwitschern gehört hat: den Ziegenmelker.“
„Der Vogel ist streng geschützt. Ein einziges männliches Exemplar hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, regelmäßig auf den Dächern des Universitätsklinikums zu singen. Deswegen ist dieses Gebiet jetzt Ziegenmelkerhabitat. (…) Die Naturschutzbehörde sagt: Ihr dürft bauen, aber ihr müsst erst für den Vogel ein Ausweichquartier schaffen. Klingt erst mal nicht schlimm. Aber Ziegenmelker sind eine Offenlandart. Sie brauchen weitläufige Flächen, die sie durchfliegen können. Deshalb stören sie sich an Bäumen.“
Der aktuelle Vorschlag der Naturschützer sei, zehn Hektar Wald hinter dem Klinikum zu fällen, damit der Vogel dort frei fliegen kann, erklärte Boris Palmer und ergänzte: „Ich freue mich schon auf die Diskussion mit der Stadtgesellschaft, wenn ich 1000 erwachsene Bäume abholze. Ich kriege schon wegen einem einzigen Baum Bürgerinitiativen!“
Palmers Hoffnungsschimmer: „Jetzt haben die letztes Jahr den Vogel nicht mehr gesehen (…) und da dachte ich: Eine Katze hat ihn erwischt. Problem gelöst!“ Aber…
„Der Ziegenmelker war ein Männchen, hat nicht gebrütet, es gibt keine Nachkommen“, stellte der Tübinger Oberbürgermeister fest. „(…) Die Naturschützer sagen: Wenn da mal ein Ziegenmelker war, dann ist das Ziegenmelkererwartungsland. Der Vogel ist seit einem Jahr nicht mehr aufgetaucht. Trotzdem müsst ihr so tun, als wäre er noch da, und den Wald fällen!“
Palmers Reaktion: „Ich habe dem Ministerpräsidenten geschrieben, ob nicht irgendein Beamter sagen könnte, wir stellen für den Vogel einen amtlichen Totenschein aus, damit wir endlich bauen können!“ Doch auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann (75, Grüne) habe da nicht helfen können.
„Der Naturschutz sagt: Wenn ihr den Wald fällt, müsst ihr an anderer Stelle einen Wald in genau dem gleichen Umfang wieder neu aufforsten“, erläuterte Palmer. „Wenn ich das machen würde, zehn Hektar neuen Wald, dann könnte der Ziegelmelker da ja auch nicht mehr hin.“
Palmer: „Es ist komplett irre!“
Die Folge, so der Oberbürgermeister: „Der Landrat, der Ministerpräsident, der Regierungspräsident, wir schreiben uns ständig Briefe. Die sind genauso ratlos wie ich. Nicht mal als Ministerpräsident kannst du sagen: Jetzt ist aber Schluss! Ich würde ja die Verantwortung übernehmen, aber das ist strafbewehrt. Da kommst du ins Gefängnis!“
Palmers Erkenntnis: „Der Vogel ist so streng geschützt, dass das Strafrecht verhindert, der menschlichen Vernunft zum Erfolg zu verhelfen. Und das ist Demokratie-schädigend. Wie soll ich das meinen Bürgern erklären? Die sagen alle, der Staat funktioniert nicht mehr! (…) Die Leute, die bauen sollen, sagen jetzt, ich habe keine Lust mehr, mich mit diesen irren Vorschriften zu befassen.“
„Deswegen“, so Boris Palmer am Schluss, sei Bürokratieabbau wichtig. Sein Vorschlag: „Lasst die Leute vor Ort die Verantwortung übernehmen! Gebt uns Beinfreiheit! Ermessensspielräume, um in so absurden Fällen einfach Strich drunter zu machen: entschieden, genehmigt, Ende der Debatte!“
Widerspruch kam sofort von Bundesbauministerin Klara Geywitz (48, SPD), die ebenfalls Gast in der ZDF-Sendung „Markus Lanz“ war. Sie sei „ganz anderer Meinung“. Geywitz sagte: „Ich wäre nicht dafür, dass Herr Palmer entscheiden darf, wer in Deutschland als Vogel leben darf und wer nicht.“